Nur die Starken verdienen Respekt: Eine Borisin-Kulturstudie und dazugehöriger Kommentar
Erste Fassung aus der Feder des Gelehrten Zongguang von der Luofu. Seltsam daran ist, dass sie nicht den sechs Wagenlenkern der Luofu gewidmet war.

Nur die Starken verdienen Respekt: Eine Borisin-Kulturstudie und dazugehöriger Kommentar

An die ehrwürdigen Zehn Fürsten,

mein Name ist Dr. Zongguang. Ich bin Kulturanthropologe an der Großen Tugendakademie der Luofu.

Ich kann bestätigen, dass es sich bei Yanyou, der vor Kurzem ohne Erlaubnis die Luofu verlassen und sich dem Rudel Weißwolf angeschlossen hat, tatsächlich um meinen Schüler handelt. Er hat die Allianz verraten und sich zu einem „Weißen Wolf“ herabgewürdigt, wofür ich die Schuld zu tragen habe. Ich bin bereit, meine gerechte Strafe zu empfangen, um als Exempel zu dienen.

Allerdings muss ich zugeben, dass mich Yanyous Entscheidung auch nicht überrascht. Viele, die in einer „zivilisierten Gesellschaft“ leben, fühlen sich einem derart „barbarischen“ Lebensstil auf fatale Weise angezogen.

Dieses Thema bedarf dringend unserer Aufmerksamkeit. Der Dritte Krieg der Wesen des Überflusses ist nun vorüber, der Staub hat sich gelegt und die Borisin werden uns in nächster Zeit vermutlich keine größeren Probleme bereiten. Womöglich ist jetzt die Zeit gekommen, uns der Frage zu stellen, vor der wir unsere Augen bisher verschlossen haben ... Sind die Borisin wirklich „barbarisch“?

Ich muss mich an damals vor 148 Jahren erinnern, als ich mit meinem Mentor Jielian einen Planeten namens Pisdo besuchte. Zu der Zeit war dieser das Revier des Rudels Rhinohund.

Wir trafen uns als Spezialisten der IFK mit dem Gründer des Rudels Rhinohund – Geliko Khan – und verbrachten 6 Sternkalendermonate auf Pisdo.

Das war das erste Mal, dass wir den Borisin auf gleicher Augenhöhe begegneten, nicht als Gegner, Kriegsgefangene oder Sklaven. Selbst für Jielan, der die Sekte der Borisinologie ins Leben gerufen hatte, war das die erste Gelegenheit dieser Art.

Geliko Khan entsprach nicht der üblichen Vorstellung eines Rudelsführers der Borisin. Er schien immer eher hager und gebrechlich. In der Borisin-Gesellschaft, wo Stärke regiert, ist ein solcher Körper mit einer Behinderung gleichzusetzen.

Geliko Khan hatte den Entschluss gefasst, diesem Pfad, der nicht für ihn geschaffen war, den Rücken zu kehren. Stattdessen hatte er einen anderen Pfad gewählt: den der Technologie und Forschung. Er versammelte eine Gruppe junger Borisin um sich, die wie er kein Talent für „Kampftechnik“ hatten oder sich weigerten, diese zu studieren. Gemeinsam betrieben sie Forschung zur Entwicklung neuer Waffen, die sie im Kampf unterstützen könnten.

Nicht einmal ein Jahrhundert später stand Geliko Khan an der Spitze seines eigenen Rudels, den „Rhinohunden“, deren Krieger in Exoskelett-Motorrüstungen in den Kampf zogen.

Bis heute sind viele Borisin der Meinung, dass das Rudel Rhinohund damit das Erbe von Vater Wolf Duran entweiht hatten. Doch keiner ihrer Kritiker würde es wagen, die Rhinohunde aufgrund ihrer körperlichen Schwäche geringzuschätzen.

In dieser Hinsicht wird die Kultur der Borisin oft missverstanden ... Bei den Borisin „verdienen nur die Starken Respekt“. Man könnte also glauben, sie respektierten nur die mächtigsten aller Krieger.

Die Wahrheit ist jedoch wesentlich komplexer. Zwar verdienen bei den Borisin tatsächlich nur die „Starken“ Respekt, aber ihre Definition von „Stärke“ ist nicht individualistisch, sondern vielfältig.

Wer ist in den Augen der Borisin „stark“? Jemand wie Hoolay, der die Kraft von tausend Männern besitzt? Er ist „stark“, das steht außer Frage. Aber jemand mit einem hohen Maß an Intelligenz, wie Geliko Khan? Auch er ist „stark“. Was ist mit den Genhexern des Rudels Meißelzahn, die mit großer Begabung Waffen und Bestienschiffe heranzüchten? Auch er ist „stark“.

In den sechs Monaten, wie wir auf Pisdo verbrachten, wurde mir klar, dass das facettenreiche Wertesystem der Borisin-Gesellschaft nicht unterdrückend, sondern gar belebend wirkt.

Allerdings stimmt es, dass gewissen Berufen in ihrer Gesellschaft kein Respekt eingeräumt wird, wie etwa Händlern oder Bauern. Allerdings werden diese in vielen Rudeln – von dem modernen Rudel Rhinohund abgesehen – auch gar nicht gebraucht. Mein Freund Arma etwa wurde in seiner Heimat auf brutalste Weise schikaniert, weil er Händler werden wollte.

Von diesen Berufen abgesehen schlagen die meisten Borisin eine Karriere als Krieger, Berater, Bestienschiffsführer, Arzt, Genhexer, Priester oder Barde ein ... All diese Berufe genießen in der Borisin-Gesellschaft ein vergleichbares Maß an Ansehen.

Selbst der mächtigste Krieger würde es sich zweimal überlegen, einen ebenso zierlichen wie genialen Dichter zu verspotten. So etwas wäre für die Borisin nämlich „Respektlosigkeit gegenüber Stärke“ und würde nach sich ziehen, dass der Schuldige gemieden wird.

Andererseits ist durch die Einstellung, dass „nur die Starken Respekt verdienen“, auch die Idee verankert, dass „ein Held von jedem Schlag sein kann“. Solange man zu den Borisin gehört und den Meister der Unsterblichkeit verehrt (was ich persönlich anzweifle), hat es keine Bedeutung, aus welchen noch so bescheidenen Umständen man kommt. Es zählt einzig und allein die eigene Stärke und ein jeder hat das Potenzial, den Weg zu bereiten und Geschichte zu schreiben.

Bevor der jetzige Große Erkan (was in der Sprache der Borisin so viel bedeutet wie „höchster Offizier“) Chiliyan seinen Posten übernahm, war er nur ein schwächlicher Kriegssklave, der rein zufällig von Geliko Khan erworben wurde. Es wird gemunkelt, dass Geliko Khan ihn nur gekauft hatte, weil er in diesem Sklaven sich selbst als Kind sah.

Laut unseren Berechnungen gab es alleine auf Pisdo außer Chiliyan noch 14 weitere Borisin, die als Kriegssklaven angefangen hatten und dann in Machtpositionen aufgestiegen waren. Das lässt sich natürlich zum Teil durch die liberale Gesinnung Geliko Khans begründet, zeigt aber auch ganz klar, dass bei den Borisin die eigenen Fähigkeiten von weit größerer Bedeutung sind als die Umstände der Geburt.

Ist das geheimnisvolle Rudel Weißwolf nicht auch ein gutes Beispiel dafür? Die foxianischen Sklaven haben rebelliert und ihr eigenes Rudel gegründet. Und trotz ihres früheren Sklavendaseins erfahren sie von den Borisin keine Geringschätzung, im Gegenteil. Sie werden von vielen Borisin für ihre wilde, gnadenlose Art gefürchtet.

Zusammen mit ihrer pluralistischen Gesellschaftsordnung hat das Credo „Nur die Starken verdienen Respekt“ ein überraschend effektives Grundsatzsystem hervorgebracht. Niemand kann sein Leben lang nur an einem Schreibtisch sitzen und die Zeit totschlagen. Niemand kann sich für immer auf seinen Lorbeeren ausruhen und sich nur auf frühere Errungenschaften berufen. Die Machthaber, die bei den Borisin das Sagen haben, müssen auch wahres Talent beweisen.

Zurück zu meinem Schüler, Yanyou. Seine Eltern hatten immer der Meinung vertreten, dass Kulturanthropologie ein „sinnloser Zeitvertreib“ wäre, mit dem er „niemals eine Arbeit finden würde“. In der Hinsicht waren sie so stur, dass sie sogar jeden Kontakt zu ihm abbrachen, nachdem er darauf bestanden hatte, seine anthropologischen Studien fortzusetzen. Als er es dann schließlich trotz aller Herausforderungen in die Akademie geschafft hatte, wurde ihm klar, dass die „führenden Akademiker“ hier (darunter auch ich) aus „akademischen Familien“ stammten, die dieser Berufung schon seit tausenden Jahren nachgingen.

Die meritokratische Kultur der Borisin, wo Heldentum mit eigenen Kräften errungen werden kann, ist für solche Individuen natürlich recht attraktiv. Der Pfad, den er eingeschlagen hat, ist verwerflich, aber ist seine Entscheidung wirklich überraschend?

Trotzdem muss ich sagen, dass mich seine Dummheit schockiert hat. Für die Borisin hat Anthropologie – die Wissenschaft vom Menschen – wahrscheinlich nur wenig Bedeutung. Hätten die Borisin auch nur das geringste bisschen Respekt vor der Kulturanthropologie, hätten sie Jielian nicht ermordet.

Ich will allerdings nicht versuchen, den Zehn Fürsten etwas vorzumachen ... Auch ich bin dem gesellschaftlichen Grundgedanken der Borisin zugeneigt. Doch das Borisin-Imperium ist mit Hoolays Gefangennahme untergegangen und der Leitspruch „Nur die Starken verdienen Respekt“ verliert in ihrer Gesellschaft langsam seinen Stellenwert. Die Aristokraten der neuen Generation zeigen sich immer „zivilisierter“, was ihre Auswahl an Talenten betrifft, und kümmern sich nur noch um die eigene Gefolgschaft – egal, wie sich das auf das Rudel in seiner Gesamtheit auswirkt.

Doch für die Xianzhou-Allianz bietet sich dadurch die Chance, überholte Ideologien abzuwerfen und von diesen „Barbaren“ zu lernen. Wenn wir uns einer Kultur zuwenden, in der Stärke an oberster Stelle steht, könnte das der stagnierenden Gesellschaft von Xianzhou neues Leben einhauchen.

Dr. Zongguang, Anthropologe an der Großen Tugendakademie der Luofu