Ein nicht abgeschickter Brief
Ein nicht abgeschickter Brief. Alle Meinungsverschiedenheiten und Streitigkeiten erscheinen unbedeutend, wenn es um Leben und Tod geht.

Ein nicht abgeschickter Brief

Mein ehemals guter Freund,

nach Erhalt deines Briefes habe ich intensiv über unsere sieben Jahre währende „Freundschaft“ nachgedacht.

Seit unserem letzten Streit ist einige Zeit vergangen, und ich glaube, dass wir uns inzwischen beide wieder beruhigt haben und ein vernünftiges Gespräch führen können. Erlaube mir hier bitte, aufrichtig und geradeheraus zu sein.

Die Differenzen zwischen uns gab es seit dem Beginn unserer Freundschaft. Anfangs war ich geblendet von meiner intensiven Bewunderung und Zuneigung für dich, und ich habe dich bereitwillig als Autoritätsperson und meinen geistigen Mentor angesehen. Dies rechtfertigt jedoch nicht, dass du deine Anhänger wie Versuchsobjekte behandelst.

Oft setzt du alle um dich herum absichtlich oder unabsichtlich unter Druck, sodass sich die Betroffenen unbewusst als dir unterlegen fühlen. Du sitzt auf dem Stuhl des „Vaters“ und akzeptierst bedingungslose Bewunderung, Schmeicheleien und Lob als Garantie für deine unanfechtbare Autorität.

Wenn du jedoch kritisiert oder herausgefordert wirst, verschwinden deine Freundlichkeit und Großzügigkeit und werden durch Grausamkeit, Denunziation und Diktatur ersetzt. In deinen Augen ist jede abweichende Meinung nichts anderes als Rebellion gegen den Vater. Obwohl es meine Absicht ist, die wertvollen Einsichten, die du entdeckt hast, weiter zu verfeinern, beschuldigst du mich, „vatermörderische Motive“ zu hegen und behauptest, dass meine Bemühungen, deine Doktrin zu erweitern, ein Versuch sei, „deine unerschütterliche Festung zu untergraben“.

Aber ist deine Obsession für Autorität nicht ein Ausdruck deiner pathologischen Abhängigkeit? Bei allem Respekt, du beziehst dein Gefühl der Sicherheit aus der Liebe und Anerkennung anderer und bist für deine emotionale Stabilität darauf angewiesen.

Offensichtlich bin ich nicht der einzige „Freund“, der sich aufgrund von philosophischen Differenzen von dir distanziert hat. Gesteh es dir ein – du suchst keine Freunde, sondern willfährige Anhänger, die keine unabhängige Meinung haben.

Ehrlich gesagt, erscheinen mir deine „Autorität“ und Sturheit inzwischen ziemlich absurd.

Dein offener und unverblümter Carl