Boothill

Ein Cyborg-Cowboy, der sich zwischen den Sternen treiben lässt. Äußerst optimistisch und hemmungslos.
Als Mitglied der Galaxieranger hat er geschworen, das Böse mit allen Mitteln auszurotten ...
Mit seinen extravaganten und forschen Aktionen will er die Aufmerksamkeit der Interastralen Friedenskorporation auf sich ziehen – das Ziel seiner Rache.

„Gray, dort im Schnee ist ein Kind!“
Gray und Nick näherten sich dem rotgesichtigen Jungen vorsichtig und hoben ihn auf, während er unablässig weinte.
Der Junge hatte einen bemerkenswerten, schönen Namen, der in der uralten Sprache von Aeragan-Epharshel „geladene Pistole“ bedeutete.

Er wuchs zusammen mit seinen Geschwistern unter der liebevollen Obhut von Gray und Nick auf. Obwohl jeder von ihnen ursprünglich aus einer anderen Gegend stammte, gehörten sie nun alle auf diesen weiten Kontinent namens „Aeragan-Epharshel“.
Gray teilte ihr Wissen über Pflanzen, Tiere und Flüsse mit ihm, während Nick ihm beibrachte, wie man Pferde zähmte und sich um Schafe kümmerte. Bereits in jungen Jahren ritt er auf seinem Fohlen durch die Bäche und begleitete Nick, wenn dieser frühmorgens ihr Vieh auf üppige, satte Felder brachte. Nick fing immer lautstark zu singen an, während das Sonnenlicht durch die strahlenden Wolken brach, woraufhin auch er mit klarer, heller Stimme ein Lied anstimmte. Er trieb sein Fohlen an und das Gelächter der beiden war bereits von Weitem zu hören.

So zogen Gray und Nick die Kinder groß und wurden mit jedem Tag älter und gebrechlicher.
Er war ein Cowboy und wahrer Meister der Jagd geworden. Sie preschten durch die sandige Ödnis, wo sie Banditen in die Flucht schlugen, mit Händlern feilschten und gegen die Bestien der Wildnis ums Überleben kämpften.
Er war dem Tod von der Schippe gesprungen, hatte sich an einer rivalisierenden Bande gerächt und hatte mit ansehen müssen, wie seine Freunde im Kampf ihr Leben verloren und wie ganze Familien innerhalb weniger Augenblicke zerbrachen ... Er hatte viel verloren, aber auch viel gewonnen. Seine Tapferkeit brachte ihm letztendlich Ansehen und Respekt ein.

Mittlerweile sieht er seine Geschwister nur selten, doch er ist sich sicher, dass sie ein gutes Leben führen.
Er sah in der stillen Nacht zum Himmel empor und dachte über die große, weite Welt da draußen nach, als plötzlich laute Schreie die Stille durchbrachen.
Als er ihnen nachging, stieß er auf ein rotgesichtiges Baby, das unablässig weinte. Erst wusste er nicht, was er tun sollte, doch schließlich nahm er das Mädchen auf den Arm, wie Gray damals auch ihn in seine Arme geschlossen hatte, und brachte es zu sich nach Hause.

Er erinnerte sich an etwas, was Nick einst mit rauer Stimme gesagt hatte ...
„Das Wasser hier schmeckt süß wie edler Wein,
die Kälte des Schnees dringt dir in die Knochen wie ein Messer.
Das hier ...
ist die perfekte Welt.“

Das Raumschiff warf im hellen Mondlicht einen Schatten über die Ebenen.

Er sprang von dem rasenden, rauschenden Zug ab, als er daran vorbeifuhr. Noch bevor Rauch und Staub sich gelegt hatten, war er bereits mit der Belohnung an seiner Basis angekommen.

Er hob den Kopf, um sich die ungebetenen Gäste genauer anzusehen. Gut gekleidete Leute in Schwarz verließen in Begleitung bis an die Zähne bewaffneter Wachen das Deck des Raumschiffs und setzten Fuß auf das Land des Cowboys. Er nahm etwas, was der Mann in Schwarz als „Synästhesie-Leuchtfeuer“ bezeichnete, und große, seltsame Visionen überkamen ihn. So erfuhr er zum ersten Mal von den endlosen, strahlenden Welten jenseits der Ebenen, Wälder, Bäche und Wege, die er bisher gekannt hatte.

Riesige Bagger tauchten am Horizont der Ebenen auf – niemand schenkte den Protesten der Einheimischen Beachtung. Und dann trat auf einmal schwarzes Erz aus der Erde aus. Die schwer bewaffneten Wachen verstießen gegen alles, an das die Einheimischen glaubten, vertrieben sie aus ihrem Zuhause und boten ihnen eine lächerlich geringe Entschädigung an.

Seine Partner und er zogen mit ihren für Guerillakämpfer typischen Waffen in den Kampf, um die Leute in Schwarz aufzuhalten. Doch angesichts der immensen Militärmacht wirkten die Pläne, Schießkunst und schnellen Pferde der Cowboys primitiv und lächerlich. Als ein Familienmitglied nach dem anderen starb, wurde ihm klar, dass er alledem nur ein Ende setzen konnte, wenn er die Person finden würde, die dafür verantwortlich war.

Er schlüpfte in die Uniform eines Arbeiters, die er gestohlen hatte, und schlich sich im Schutze der Nacht an Bord des Raumschiffs. Dank seiner Instinkte und seiner im Laufe der Jahre durchs Jagen geschärften Sinne gelang es ihm, jede einzelne Wache auszuschalten, die ihm in die Quere kam, und sämtlichen Kontrollpunkten und Verhören aus dem Weg zu gehen, bis er schließlich zur Kabine im Innern vorgedrungen war.

Er sah einen Mann, der etwas zu seinen Untergebenen zu sagen schien.
„Aeragan-Epharshel verfügt über wichtige strategische Ressourcen. Wer diese zuerst an sich reißen kann, verschafft sich im Konkurrenzkampf der Abteilungen einen enormen Vorteil. Diese wilden, unzivilisierten Cowboys scheinen nicht mit der Abteilung für Marketingentwicklung zusammenarbeiten zu wollen, also bleibt uns nichts anderes übrig, als die Verwaltung über diese Welt zu übernehmen.
Uns bleibt keine Zeit mehr. Wendet militärische Gewalt an, wenn nötig, und zivilisiert diese Welt.“

Plötzlich kam ihm ein furchtbarer Gedanke und er ergriff panisch die Flucht. Die Mitarbeiter um ihn herum machten weiterhin Witze und lachten, während er die Luft anhielt und seine Wut und seine Tränen zu unterdrücken versuchte ... Seine Familie brauchte ihn. Er durfte jetzt nicht aufgeben.

Kanonenfeuer regnete vom Himmel herab. Als er endlich bei der Farm ankam, die inzwischen in Schutt und Asche lag, waren Gray und Nick und alle Freunde, mit denen er aufgewachsen war, bereits in dem Flammenmeer ums Leben gekommen. Er hielt an der Hoffnung fest, dass er wenigstens die Kleine finden würde ... Sie hatte gerade erst laufen gelernt und liebte es, auf die kleine Gitarre zu klopfen, die er für sie gebaut hatte, und dabei zu kichern. Doch dort war niemand. Vom Land war nichts als verbrannte Erde übrig geblieben ... Er hatte noch nicht einmal genug Zeit, um einen Grabstein für all jene aufzustellen, die er verloren hatte.

„Die Interastrale Friedenskorporation ... Die Abteilung für Marketingentwicklung ...“
Dieser Anblick und diese Namen erschütterten seinen Verstand wie ein Albtraum, der sich in sein Innerstes fraß. Selbst wenn er sterben und wiedergeboren werden sollte, würde er sie niemals vergessen.

Laut den planetarischen Aufzeichnungen von Aeragan-Epharshel wurden die Einheimischen, die seit Generationen in dem Land gelebt und es bebaut hatten, von einer unbekannten Katastrophe ausgelöscht. Die Überlebenden, überwiegend gebrechliche ältere Menschen und Jugendliche, leben in immer kleineren Reservaten. Das seltene schwarze Erz wird bis heute in riesigen Mengen für die Herstellung vernichtender Waffen verwendet und über Transportschiffe der IFK an mehr und mehr Planeten geliefert.

„Dieser Weg ist nichts für dich. Verschwinde. Such dir einen Job oder ... eine Ausbildung.“
Die kleine Ärztin legte ihr halb aufgegessenes Sandwich beiseite und wischte sich die Hände an ihrem weißen Kittel ab, der ihr eindeutig ein paar Nummern zu groß war.

Der Mann antwortete nicht und zog sich stattdessen aus. Sein gesamter Körper war mit Narben übersät. Doch die Ärztin ließ nicht locker.
„Ein junger Mann wie du hat eine bessere Zukunft verdient. Der Weg ist nur für jene, denen keine andere Wahl bleibt. Für jene, die nicht von vorn beginnen können, es dem Bösen aber trotzdem heimzahlen wollen ...“
Der kalte Lauf eines Gewehrs bohrte sich in die Stirn der Ärztin – oder vielmehr in den Teil von ihr, den man noch als Stirn bezeichnen konnte.
„Wenn ich einen Vortrag hätte hören wollen, hätte ich mir bereits eine Uni gesucht“, drohte der Mann.
„Ich verstehe zwar, was du vorhast, aber mit einem Gewehr kommst du bei mir nicht weit ... Also gut. Leg dich hin“, antwortete die Ärztin resigniert.

...
Die Lichter über dem Operationstisch gingen an.
Er hatte das Gefühl, in einem tiefen Meer versunken zu sein. Sein Fleisch wurde eingewickelt und dann mit allem um ihn herum verschmolzen. Sein Körper existierte nicht mehr. Zurück blieb nichts als sein leerer Verstand.
Seltsamerweise verschwanden seine Gefühle – Entsetzen, Angst, Einsamkeit, Dunkelheit, Wut – nicht zusammen mit seinem physischen Körper. Sie veränderten sich, existierten jedoch weiterhin, und er spürte sie noch intensiver als zuvor.
Er roch etwas Verbranntes und spürte sogar den sanften Atem der Ärztin. „Sie kann atmen?“, fragte er sich unwillkürlich. Er konnte das Summen der Maschinen um sich herum hören und das neue blaue Blut weigerte sich, zu seinem durstigen Herzen zu fließen.
Er wollte hier einfach nur einschlafen und nie wieder aufwachen.
Bis er die rauen Lieder und sanften Worte hörte und die Erinnerungen von damals zu ihm zurückkehrten. Sein unvergesslicher Hass wurde zu einem schwachen Licht in der Dunkelheit. Er folgte ihm, bis er das Ende erreicht hatte, und versuchte mit aller Kraft, wieder an die Oberfläche zu gelangen.
...

„Gratuliere. Ist ziemlich schwer, dich zu töten.“
Die Ärztin wischte sich die blutverschmierten Hände an ihrem weißen Kittel ab und griff wieder zu ihrem halb gegessenen Sandwich.
„Du hast gedacht, ich würde sterben?“
Er ballte seine Fäuste, die jetzt eisern und kalt waren.
„Die meisten wären gestorben“, sagte die Ärztin geradeheraus, „und das nicht, weil ich eine schlechte Ärztin bin.“
„Ich hab gute Neuigkeiten für dich: Ich war schon längst tot.“
„Wie heißt du?“
Er zögerte kurz. Er konnte die sanften und rauen Stimmen nicht mehr hören. Es gab niemanden mehr, der ihn bei diesem klaren und klangvollen Namen nannte.
„Boothill. Wo ich herkomm, ist das die Bezeichnung für getötete Schützen.“
Er lächelte und spitze Zähne kamen zum Vorschein.
„Aber das ist erst der Anfang. Das ist nur ’n kleiner Preis verglichen mit dem, was ich für meine Rache noch zahlen muss.“
Er schlurfte in seinem neuen Körper mühsam durch die Tür.

„Dann wünsche ich dir eine erfolgreiche Jagd, Galaxieranger Boothill!“
Die kleine Ärztin rief ihm hinterher, als er den Raum verließ.
Boothill musste draußen einfach zum Himmel emporsehen. Dort leuchtete jetzt ein neuer Stern inmitten der anderen.

Er kehrte mehrmals nach Aeragan-Epharshel zurück, um Ermittlungen zu dem Mann anzustellen, der die Vernichtung seines gesamten Stammes befohlen hatte, doch er musste feststellen, dass die Identität des Mannes bereits aus sämtlichen historischen Aufzeichnungen gelöscht worden war.
Er drang in einen Ableger des Gartens des Gedächtnisses vor und versuchte, Erinnerungsblasen zu lesen, die mit Aeragan-Epharshel in Verbindung standen. Die Erinnerungsblasen in den Vitrinen fielen alle zu Boden. Die Wahrer der Erinnerungen hatten keine Zeit, ihn aufzuhalten. Stattdessen versuchten sie fieberhaft, die seltenen und wertvollsten Erinnerungen zu retten.

Als er aus dem Garten des Gedächtnisses geworfen wurde, sah er inmitten des Chaos endlich den gesuchten Mann in einer Erinnerungsblase, die mit Argan-Apashe zu tun hatte.
„Oswaldo Schneider, Leiter der Abteilung für Marketingentwicklung der Interastralen Friedenskorporation ...“

...

„Hast du’s schon gehört? Ein geheimnisvoller Cyborg hat die Flotten der IFK am interstellaren Hafen in Pier Point angegriffen.“
„Er hat der Abteilung für Marketingentwicklung jede Menge Arbeit zunichtegemacht. Haltet schon mal das Popcorn bereit. Wird auch langsam Zeit, dass die dafür bezahlen, immer so provokativ zu sein ...“
„Popcorn? Ich gehe morgen nach Pier Point zurück und hab Angst, dass mir einer eine Knarre an die Schläfe hält ...“
Uniformierte IFK-Mitarbeiter gehen in Zweier- und Dreiergrüppchen mit Kaffeebechern in der Hand an dem Brunnen auf dem Platz vorbei.

Der Cowboy zog sich die Krempe seines Huts im Schatten des Baums tiefer ins Gesicht. Er las den Steckbrief in der Zeitung, während er entspannt einen Schluck aus seiner Flasche Malzfruchtsaft nahm.
„Boothill. Geburtsort unbekannt. Galaxieranger. Verantwortlich für die folgenden Verbrechen: 5 Angriffe auf Pier Point; 3 Angriffe auf Waffenlager der Abteilung für Marketingentwicklung der IFK; mehrere Angriffe auf IFK-Arbeiter auf Rang P40 oder höher. Des Weiteren ist diese Person vermutlich für den Raub des Schatzes des Marie-Louin-Systems, Aufstände im Kongea-Ringsystem, die große Explosion auf dem Planeten Galileo und viele weitere Vorfälle auf Planeten im Zuständigkeitsbereich der IFK verantwortlich.“

„Dieser Schoßkopf ... Die Male, wo ich gerade so mit dem Leben davongekommen bin, zu beschreiben, als sei das keine große Sache gewesen ...“
Er warf die Zeitung beiseite und starrte zu den Flotten herüber, die bei dieser IFK-Zweigstelle eintrafen oder sie verließen. Die auf seinen Kopf ausgesetzte Summe nahm mit jeder Fahndung zu, doch von Oswaldo gab es weiterhin keine Spur. Der Leiter ließ sich nicht durch amtliche Bekanntmachungen ausfindig machen und selbst die mittleren Führungskräfte schienen nicht zu wissen, wo der Mann sich aufhielt.

Die untergeordneten Omnics versendeten am Dock ordnungsgemäß Waren, während einfach aussehende Schiffe hin- und herfuhren. Als er 359 Schiffe gezählt hatte, nahmen die Arbeiter am Dock ihre Hüte ab, um ein prächtiges Raumschiff zu grüßen, das umgeben von schützenden Korvetten den Kai verließ und auf den Planet der Festlichkeiten zusteuerte. Er schüttelte den Kopf, während er das protzige Luxusraumschiff anschaute und auf etwas anderes wartete.

Nach einigen Minuten verließ ein kleines, graues Bioschiff zusammen mit einer Handelsflotte lautlos den Hafen
– das war sein eigentliches Ziel.

„Du kannst dich nicht für immer verstecken, Oswaldo. Wenn ich dich nicht finden kann, dann such ich mir eben ein paar Hunde von der IFK, die dich nicht ausstehen können!“
„Wenn ich so an die Typen denke, die ich getötet habe, weil sie sich auf die Seite des Feindes geschlagen haben ... frag ich mich, ob sie mich gerade da unten in der Hölle auslachen ...“
Er warf die leere Flasche beiseite und zeigte seine scharfen Zähne.
„Nur keine Sorge. Wir werden uns schon ganz bald wiedersehen.“